Eine jüdische Stimme
Brennende Synagogen, zerstörte Einrichtungen, Morde und Massenverhaftungen – die Reichspogromnacht des 9. November 1938 war ein Wendepunkt in der deutsch-jüdischen Geschichte. In der Erinnerungskultur jüdischer Gemeinden hierzulande ist dieses Datum zentral. Gemeinsame Geschichte ist identitätsstiftend, aber welches Selbstverständnis lässt sich aus erlittener Verfolgung und Vernichtung beziehen? Und wie gedenkt man der Schoah, der kaltherzig von Menschen begangenen monströsen Verbrechens, das unser Verstehen übersteigt?
Sachor, Erinnern und Gedenken, gehört zum Kern des Judentums und drückt sich in charakteristischen liturgischen Praktiken aus. Klagelieder und Gebete wie Kaddisch und El Malé Rachamim sind jahrhundertealte Ausdrucksformen von Trauer und Gedenken, die weiterhin benutzt werden, ohne damit der Schoah eine religiöse Deutung beizulegen. Daneben bezieht jüdische Erinnerungskultur heute eine Vielfalt anderer Formen ein, wie Zeitzeugenberichte, Kunstwerke, Namenslesungen. Auch unterschiedliche biographische Zugänge wirken sich auf die Gestaltung des Erinnerns aus: Überlebende gedenken anders als die Generation ihrer Enkel, aus der früheren Sowjetunion zugewanderte Juden bringen wieder andere Narrative mit. Einig sind sich alle darin, das „Sachor!“ fortzutragen und lebendig zu halten.
Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg
Eine christliche Stimme
»Zwei und ein halbes Jahr stritten die vom Lehrhaus Schammais mit denen des Lehrhauses Hillel über die Konsequenzen des bösen Tuns der Menschen. Die einen sagten: Es wäre dem Menschen dienlicher, wenn er nicht erschaffen worden wäre. Die anderen sag-ten, es ist dem Menschen dienlicher, dass er erschaffen worden ist. Sie stimmten ab und kamen zu dem Schluss: Es wäre dem Men-schen zwar dienlicher, er wäre nicht erschaffen worden, da er nun aber erschaffen sei, soll er seine Geschichte bedenken und sein Tun in der Zukunft.« (Babylonischer Talmud, Eruvin 13 b)
Ein hochaktueller uralter Text, der für die Frage nach Wegen der Erinnerung und des Gedenkens als Ausgangstext nicht nur am 9. November taugt. Zukunft ist Erinnerung und alle Versuche, ohne den Prozess die eigene »Geschichte zu bedenken«, »zu tun«, also handlungsfähig zu werden, werden scheitern. Dabei macht dieser Text auch auf eine Orientierung deutlich, ohne die Erinnerung nicht auskommt. Denn wie wir auch wissen, ist Erinnerung nicht per se auf eine Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden ausgerichtet. Es gibt auch Erinnerung an vergangene durch Gewalt entstandene Größe oder eben auch leider Erinnerungen an die Nazizeit, die sich nach so einer germanischen Herrschaft sehnen, oder nach einem weißen Europa.
Biblisch geht es aber um die Vermeidung von gewaltvollem bösen Tun. Es geht um Erinnerung, die Ernst macht mit der Ebenbildlich-keit Gottes aller Menschen und damit eben der Teilhabe und der Gleichwertigkeit aller Menschen. Nun ist der Talmud kein christlicher Text. Dass wir ihn überhaupt als Christ*innen wertschätzend wahrnehmen, ist wohl auch ein Ergebnis von Erinnerung. Erinnerung daran, dass unsere Kirchengeschichte vor Missachtung und Gewalt gegen Juden nur so strotzt und dass wir uns von dieser Miss-achtung abkehren müssen – Erinnerung als Umkehr. Denn diese eigene Gewaltgeschichte zu bedenken und danach zu tun, führt uns in eine demütigen und wertschätzenden Zugang zu jüdischem Denken und zu der Frage, warum musste diese Schwester im Glauben, das Judentum, von Christ*innen so abgewertet, diskriminiert und verfolgt werden. Diese Frage ist am 9. November heute besonders naheliegend. Denn Erinnerung ist Aufruhr auch gegen die eigenen bis in die Gegenwart wirksamen judenfeindlichen Traditionen. Sol-che Erinnerung gestaltet Zukunft. Gehen wir denken und tun danach.
Christian Staffa, Studienleiter der Ev. Akademie zu Berlin und Antisemitismusbeauftragter der EKD